Psalmlieder

Gregorianik - Entstehung und Stile

Dichtung und Gesang mit überzeitlicher Tradition

Richard of Wallingford, Illustration, 14. Jhd.

Foto: Wikipedia/Leinad-Z

Der biblische Psalter hatte als mit Musik verbundene Dichtung schon in vorchristlicher Zeit eine lange Tradition. Das gilt ohne Unterbrechung auch für die Folgezeit. Nach Christus wurden die Psalmen einerseits in Synagogen als Gebete gelesen und gesungen, andererseits wurden sie von der frühen Kirche übernommen, zumindest textlich. Wir dürfen davon ausgehen, dass mit der judäischen Diaspora nach dem ersten jüdisch-römischen Krieg (66-74) sowie mit der Ausbreitung des Christentums gottesdienstliche Gesänge aus dem Vorderen Orient auch in den Westen übertragen wurden, darunter auch das Prinzip, Psalmen singend zu beten.

Auf diesem Boden entwickelte sich der römische Kirchengesang, aus dem die europäische Musik erwuchs, die gemeinhin als „klassische Musik“ bezeichnet wird.

Römischer Kirchengesang

Darunter versteht man das weite Feld der Gregorianik, die auch als gregorianischer Gesang oder gregorianischer Chroal bezeichnet wird. Im engeren Sinne vertseht man darunterdie unter Papst Gregor dem Großen (590 -604) gesammelten, frühchristlichen Lieder. Diese weisen vorderorientalische und griechische Züge auf. Besonders die jüdisch-sakrale Musik dürfte Einfluss genommen haben, wie sie den Aposteln, besonders aber dem studierten Paulus bekannt war, der sie als Heidenapostel mit dem christlichen Glauben ins westliche Europa trug. Im weiteren Sinne handelt es sich bei (sekundärer) Gregorianik um Gesänge, die in entsprechender Stilistik gehalten, doch in nachgrgorianischer Zeit enstanden sind und Eingang in den reichen Fundus mittelalterlichen Kirchengsangs gefunden haben und liturgiebestimmend wurden.

Grob gesehen, ergab sich folgende Entwicklung:

Das Psalmensingen repräsentierte als Psalmodie einen der Vokalstile der Gregorianik, also des einstimmigen katholischen Kirchengesangs. Die Gregorianik als die große Einstimmigkeit des Mittelalters bildete die Grundlage zur Entstehung der Mehrstimmigkeit, die sich in der zweiten Hälfte des Mittelalters entwickelte, also etwa ab 1000 n. Chr. Der ästhetische Sinn sowie die technische Kenntnis, zwei und mehr Stimmen zu kombinieren, führte von 1000 bis 1500 zur Herausbildung diverser Vokalgattungen oder Stile. Diese können allerdings nicht allein auf das musikalische Psalmodieren zurückgeführt werden, sondern auf die Gregorianik insgesamt. Doch war die Psalmodie in Mittelalter und Neuzeit (seit etwa 1500), sozusagen beständiger Begleitgesang. – Auf der Gregorianik heraus reiften also im Mittelalter und besonders in der Renaissance (1400-1600) Phänomene der vokalen Mehrstimmigkeit, die in der Welt einmalig sind und Weiterem den Boden bereiteten: So der sich etwa ab 1600 verselbstständigenden Instrumentalmusik, aber auch der sogenannten „verbundenen Musik“, bei der Instrumente und menschliche Stimmen zusammenwirken, beispielsweise die Gattungen Oratorium, Oper, Operette, Kunst- oder Klavierlied und Musical.

Im Kristallisationszentrum dieser zukunftsträchtigen musikalischen Großfelder steht das Italien der Renaissance als das praktisch alle Künste befruchtende Land. Diese Epoche ist sozusagen die Mittelalter und Neuzeit verbindende oder überlappende Epochalbrücke. Die hier geschaffene, bereits hoch entwickelte Vokalkunst Italiens, aber auch der Niederlande bzw. Flanderns strahlt in die nachmittelalterlichen Epochen aus, sowohl was die rein vokale als auch die verbundene Musik sowie die reine Instrumentalmusik betrifft.

Psalmodie

Soweit die Übersicht. Wir wenden nun den Blick weit zurück, wobei wir das für Psalmen Spezifische ins Auge fassen: Die Bedeutung der tief in der orientalischen Kultur verankerten Psalm-Dichtung für die Kultur Europas ist sicherlich bedeutsam. Aber so gut die Psalmen textlich überliefert sind, so wenig wissen wir, wie die sie tragende oder begleitende Musik geklungen haben mag. Der auf einem Rezitationston den Text sprechnah rezitierende psalmodische Stil oder das Psalmodieren bzw. die Psalmodie wurde in Klöstern und Kirchen gepflegt. Wie noch deutlich zu machen sein wird, wird das Psalmodieren in der katholischen Kirche bis heute praktiziert und in jüngerer Zeit auch im evangelischen Gottesdienst, wohl als Ausdruck der musikalischen Ökumene. Da das Psalmodieren als Inbegriff katholischen Rezitationsgesangs galt, wurde sie durch die Reformatoren geradezu vermieden.

Um die Psalmodie strukturell zu veranschaulichen, führen wir das Modellhafte dieses Stils vor Augen, wie es als strukturelles Prinzip in vielen Lehrwerken dargestellt wird:

Grafik zur "Psalmodie"

Die beiden Rezitationstonpartien (lat. recitare = vorlesen, rezitieren) können beliebig viele Textsilben tragen. Rezitiert wird auf einer bestimmten Tonhöhe, sozusagen monoton. Das sollte hier nicht abwertend, sondern im eigentlichen Sinn dieses Wortes verstanden werden. Eher würde ich von der „grandiosen Monotonie des Mittelalters“ sprechen. Weil der Rezitationston weitgehend beibe-halten wird, bezeichnet man ihn auch als Tenor (von lat. tenere = halten). Die Tenorpartien konnten also sprechgesangartig beliebig viel Text enthalten. Die Rezitationstonpartien waren sozusagen eingebettet in kurze, bezüglich Tonhöhe freier gestaltenden Passagen: Initium (= Anfang), Mediatio (= svw. Mitte, Vermittlung) und Finalis (svw. Abschluss). Damit haben wir das uralte, wahrscheinlich auf den Psalmen gründende Prinzip des sprechenden Singens bzw. Sprechgesangs erfasst. – Als psalmodisches Beispiel sei der Anfang einer auf Psalm 116 bezogenen Psalmodie angeführt:

Antiphonale Romanum, Psalmus 116 (In heutigen Bibelausgaben als Psalm 117 geführt) [1].

Analog zu den beiden inhaltlich verwandten Aussagen, wie sie in der hebräischen Parallelismus-Dichtung mit ihren (meist) paarigen Aussagegliedern als parallelismus membrorum vorliegen, ist auch die Psalmodie (meist) zweigliedrig, wie Modell und Notenbild erkennen lassen. Somit entsprechen dichterische und musikalische Form einander. Dabei ist offensichtlich, dass bei der Psalmodie der Text das wesentliche Element ist. Lediglich an Beginn, Mitte und Schluss gibt es begrenzte melodische Gestaltungsfreiheit. Bei der Psalmodie erweist sich die Musik als Trägerin der Wortbotschaft oder Dienerin des Worts; deshalb spricht man von musica militans (= dienende Musik), eben im Sinne der Unterordnung unter das Wort.

In der hebräischen Psalmdichtungliegen (meist) zwei sinnverwandte Aussageglieder vor. Als Beispiel dienen zwei titelgebende Verse:

Wach auf, Psalter und Harfe! /
Ich will das Morgenrot wecken.
(Psalm 108:3; Luther 1984)
Wach auf, meine Seele, wach auf, Psalter und Harfe, /
ich will das Morgenrot wecken!

(Psalm 57:9; Luther 1984)

Bei solcher sinnverwandter Zweigliedrigkeit spricht man von parallelismus mebrorum. Ebenso ist auch die Psalmodie (meist) zweigliedrig, wie Modell- und Notenbeispiel erkennen lassen. Somit entsprechen dichterische und musikalische Form einander. Dabei ist offensichtlich, dass bei der Psalmodie der Text das wesentliche Element ist. Lediglich an Beginn, Mitte und Schluss gibt es begrenzte melodische Gestaltungsfreiheit. Bei der Psalmodie erweist sich die Musik als Trägerin der Wortbotschaft oder Dienerin des Worts; deshalb spricht man von musica militans (= dienende Musik), eben im Sinne der Unterordnung unter das Wort.

Ausführliche Darlegungen zum Thema "Parallelismus-Dichtung" finden Sie in der Begleitausgabe "Anmerkungen und Erläuterungen" (VS 6629/03) zu "Wecken will ich das Morgenrot". [2]

Hymnodie und Jubilation

Die beiden anderen Stilprinzipien der Gregorianik sind musikalisch freizügiger. Wären die melodisch beweglicheren Teile der Psalmodie, nämlich Initium, Mediatio und Finalis ein ganzes Lied lang gestaltgebend und würde dabei der Tonumfang ausgeweitet, läge das Prinzip der Hymnodie vor. Auch hier wird – wie bei der Psalmodie – insofern die Nähe zum natürlichen Sprechen gewahrt, weil Syllabik (lat. syllaba = Silbe) vorherrscht, also reiner Silbengesang: pro Silbe ein Ton. In der Hymnodie sind Text und Musik quasi gleich wichtig. – Wenn aber das syllabische Prinzip verlassen wird und der Text überwiegend melismatisch (gr. melisma svw. Verzierung, Auszierung) vertont wird, also pro Silbe zwei und mehr Töne gesungen werden, ja bis zu ganzen Tönegirlanden, so handelt es sich um die Jubilation. Ihr Ursprung liegt ebenfalls im Orient.

Bei der Jubilation, also dem ausgeprägt melismatischen Prinzip, wird die Musik bzw. die Melodik gegenüber dem Text relativ wichtiger; der Vokal eines Wortes oder einer Silbe wird zum Klangträger einer ganzen Töne-Kette: Al-le-lu-u-u-u-u-u-u-ja-a-a-a ... Weil hier, im Gegensatz zur Psalmodie, der Text durch Töne ausgeziert wird, tritt die Musik in den Vordergrund, triumphiert sozusagen über den Text; deshalb spricht man von musica triumphans. Es sollte nicht überraschen, dass gerade dieses musikemanzipatorische Prinzip von jeher klerikal umstritten war. Bereits Augustinus (345-430) hatte dazu ästhetisch sowie theologisch Stellung bezogen. Näheres siehe Aurelius Augustinus: Bekenntnisse.[3]

Die drei Prinzipien der Wort-Ton-Behandlung, wie sie in Psalmodie, Hymnodie und Jubilation vorliegen, bestimmen das formelle Verhältnis zwischen Sprache und Musik von jeher, alle Stile und Kulturen übergreifend. Selbst wenn Spezialisten bei der Gregorianik von den Inhalten her weitere Stile unterscheiden mögen, bewegen sie sich im Rahmen dieser drei Prinzipien des Wort-Ton-Verhältnisses.

Was den Kirchengesang betrifft, befanden sich die Reformatoren in einer problematischen Situation. Sie veranlassten zwar die Reformation, verfügten aber zunächst nicht über geeignetes Liedgut. Wie sie, v.a. auf die Psalmen gestützt, diesem Problem abhalfen, soll in einem eigenen Kapitel nachvollzogen werden. Wir machen nunmehr einen noch weiter reichenden Zeit-Sprung unter der Fragestellung: Gibt es – im Gegensatz zu den Bestrebungen der Reformatoren – heute, in der Zeit ausgeprägter ökumenischer Bemühungen, Rückgriffe auf das psalmodierende Prinzip? Diese Frage richtet sich an das seit 1993 erscheinende Evangelische Gesangbuch (EG).

Überschauen wir daraufhin die Abteilung „Der Gottesdienst“ von Lied Nr. 783.1 bis Nr. 788, so fällt der große Anteil von Gesängen mit Rezitationston-Passagen auf. Sie werden hier in sinnfälliger Balkenschreibweise wiedergegeben, wie ein Ausschnitt aus dem 23. Psalm belegt [4].

Notenbeispiel aus dem Evangelischen Gesangsbuch, Nr. 787, Psalm 23

Betrachtet man vor diesem Hintergrund etwa die Liedkompositionen des richtungsweisenden, musikbegabten Martin Luther, wird deutlich, dass er weder den psalmodierenden noch den jubilatorischen Stil der Gregorianik übernahm, sondern in aller Konsequenz dem Stil der Mitte entsprach, der Hymnodie. Diesem Stil folgte das reformatorische Liedgut, zumal er der volksnahe Stiltypus war und ist. Hier kann die Melodie sich frei entfalten und die Textbilder rhetorisch unterstreichen. Während in der Psalmodie objektiv rezitiert wird, konnte sich in der Hymnik der Reformation eine regelrechte Ausdrucksmelodik entwickeln, freilich im Rahmen dessen, was das Kirchenvolk singend zu bewältigen vermochte. Das geschah zunächst bevorzugt anhand von Texten, die auf Psalmen gründeten.

Quellen und weiterführende Literatur

[1] Antiphonale Romanum, Ausg. 1949, S. 91 der Abt. „Toni communes“.
[2] Lamparter, Helmut & Grau, Wolfgang: Wecken will ich das Morgenrot. "Anmerkungen und Erläuterungen". (VS 6629/03)
[3] „Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, S. 265. Diese Übersetzung aus dem Lateinischen ziehe ich anderen vor, die unter obiger Eingabe ebenfalls abgerufen werden können.
[4] Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für Hessen und Nassau 1993, Lied Nr. 787.