Psalmlieder

Hymnik

Die Philosophie von "Wecken will ich das Morgenrot

Mein Grundsatz bei aller textgezeugten Musik vom einstimmigen Lied bis zur vielstimmigen Motette ist von der Kunstmusik her geprägt:

Die Musik verdeutlicht das Wort mit den ihr eigenen Ausdrucksmitteln und dient so der göttlichen Botschaft wie der gläubigen Seele. Das macht für mich Musik geistlich und heilsam.

Mein diesbezüglich weitergehendes Bekenntnis kann beispielsweise der Psalmlieder-Edition „Wecken will ich das Morgenrot“ entnommen werden.

"Nun komm, der Heiden Heiland"

Advenshymnus vom Luther

Hymnen sind Loblieder. Das trifft für viele Psalmen zu. Dem tragen die Lieder von „Wecken will ich das Morgenrot“ Rechnung. Im Anhang zur Klavierausgabe (VS 6629/02) wird ein Vergleich zu den Nationalhymnen gezogen, die in der Regel als Loblieder auf die jeweilige Nation geschaffen wurden. Zwei textlich-musikalische Grundtypen werden herausgearbeitet: (1) der feierlich-choralartige Hymnentypus und (2) der kraftvoll-vorwärtsschreitende Typus.

Lamparter stellt für die Psalmen drei Texttypen heraus: (1) das "frisch auffahrende" Loblied als den eigentlichen Hymnentypus, (2) das eher ruhige Klagelied und (3) das Danklied. Aus musikalischer Sicht stehen das Lob- und das Danklied einander in ihrer freudigen Bewegtheit nahe, während das Klagelied eher ruhigen Charakter erwarten lässt.

Freilich handelt es sich bei dieser Charakterisierung um Tendenzaussagen, die angesichts der Vielfalt der Psalmeninhalte zu differenzieren wären. Die Vielfältigkeit sei anhand eines Zitats des Psalmenkenners Lamparter beispielhaft gemacht. Er bemerkt zu den Klagepsalmen:

„Der Anlass zur Klage vor Gott ist denkbar verschieden: Krankheit und Todesangst, Verhöhnung und Verfolgung, Zweifel und Sündenlast, Bedrückung und Rechtsbruch, das Überhandnehmen der Gottlosen (Ps. 12) – all das treibt den leidenden Knecht Gottes ins Gebet. Dazu kommen die gemeinsamen Nöte, Gefahren und Katastrophen, wie Krieg und Niederlage, Misswachs, Seuchen und Teuerung, unter denen das ganze Volk zu leiden hat ... In vielen Psalmen ist das Klagelied mit dem Danklied verbunden ...“. (Aus: H. Lamparter: Das Buch der Psalmen (Band 1), Calwer Verlag 1977 (3. Auflage), S. 16f.

Auch diese Verbundenheit ruft nach musikalischer Ausdrucksvielfalt, was die durchgehende Verwendung des Strophenliedprinzips in Frage zu stellen scheint. Umso mehr sollten sich bei den Liedern aus „Wecken will ich das Morgenrot“ solistische wie chorische Interpretinnen und Interpreten aufgefordert sehen, dem durchgehenden Strophenprinzip strophenspezifischen Ausdruck zu verleihen, etwa durch flexible Anpassung von Tempo und Dynamik oder durch entsprechenden Sprachgestus. Es ist wie bei der Rede: Die gleichen Worte können Unterschiedliches hervorheben, je nach Betonung oder Sprachhaltung. Der Klavierpart der Ausgabe VS 6629/02 unterstreicht den hymnischen Charakter, wo immer möglich. Idealerweise wäre der strophenspezifische Ausdruck auch pianistisch-interpretatorisch zu unterstützen.